r2 - Reflex-Sonnenuhr

Meine sechste Sonnenuhr war wiederum eine Reflex-Sonnenuhr.

Sie wurde von Dietrich Ahlers mit Hilfe seiner Tridux 2000 berechnet. Wir gingen damals gleich im Anschluß an die Markierung der Stundenlinien der r1- Sonnenuhr ein Stockwerk tiefer und schufen eine zweite Spiegelsonnenuhr. Hier war es wesentlich einfacher, die Tridux 2000 am Fensterbrett zu fixieren als oben im Dachzimmer mit seinem altmodischen Kippfenster.

Bei dieser Sonnenuhr, die sich im ersten Stock des Hauses Kopernikusstraße 125 befindet und die durch das überstehende Dach in den Sommer-monaten nicht arbeiten kann, werden im winzigen Zimmer fünf Flächen "bespielt" sowie im angrenzenden Flur durch die geöffnete Tür hindurch zwei Flächen. Mit fünf Flächen sind drei Zimmerwände, die Zimmerdecke sowie die Seitenwand eines schmalen Schranks gemeint, auf dem auch eine Stundenlinie verläuft, nämlich für die zweite und dritte Nachmittagsstunde, die dann an der Zimmerdecke bzw. an der Wand weitergeführt werden.

Den Spezialspiegel hatte mir - wie bei der r1-Reflex-Sonnenuhr -  Elsa Stocco aus Norditalien geschenkt. Ursprünglich wollte ich als Spiegelträger eine meiner gläsernen Bauernsilber-Leuchter aus dem Bayerischen Wald verwenden.

Bauernsilber nennt man etwas despektierlich die gläsernen Vasen, Leuchter, Figuren, Kreuze, die von innen her verspiegelt sind und silbern glänzen. Mit denen versuchten die Glashütten des Bayerischen Walds - meiner Heimatregion - eine Marktlücke zu schaffen und so gegenüber der übermächtigen internationalen Konkurrenz zu bestehen. Es war ein letztlich leider gescheiterter Versuch. Ich mag diese Gebilde sehr und habe etliche von meiner Mutter geschenkt bekommen und halte sie in Ehren. Leider erwies sich mein Plan, den kleinen Reflexionsspiegel statt eines Dochtes oben auf einer Kerze zu befestigen als sehr schwer durchführbar, weil sich auf der Kerze keine dauerhaft genau plane Lagerfläche für das Spieglein schaffen ließ. Dietrich Ahlers, der von meinen vergeblichen Experimenten mit dem gläsernen Kerzenständer erfuhr, kam eines Tages mit einem gedrechselten Kerzenleuchter aus Holz zu Besuch. In die Bodenfläche hatte er drei Schrauben eingepaßt. Mit deren Hilfe gelang es, den Spiegel genau plan zu justieren. Ich faßte diesen hölzernen Spiegelhalter später farbig.

Das Motto "SEMPER DIES FULGANT PACIS" hat mir mein italienischer Sonnenuhrfreund Alessandro Gunella geschenkt.

Ich antwortete mit diesem Beschwörungswunsch auf ein allgemein bekanntes Ereignis vom 11. September in den Vereinigten Staaten von Nordamerika.

Mit diesen Lateinsprüchen hat man öfters ein Gfrett, vor allem dann, wenn sie in fein nuancierten Varianten auf dem Markt sind. Ich hatte erst „fulgerent" an die Wand gepinselt, doch das gefiel Alessandro Gunella nicht so richtig. Weil er in Italien und in der Welt nicht nur ein gepriesener Gnomonist ist, sondern auch wie kein Zweiter des Lateinischen mächtig ist, ließ ich mich gern von ihm belehren, kratzte das fulgerent wieder ab und pinselte das nunmehrige fulgant dran.

Darf ich Ihr Augenmerk auf ein kleines Gestaltungsdetail dieser sich flächenmäßig recht weit ausbreitenden Sonnenuhr lenken: Dem Spruchband mit der eingefügten linken Hand!

Es ist ein in Farbe ausgeführtes Zitat eines wunderschönen Details, das sich der fulminante Kupferstecher des großen Manuele Maignan für sein Buch "PERSPECTIVA  H O R A R I A  SIVE DE HOROGRAPHIA GNOMONICA TUM THEORETICA, TUM PRACTICA LIBRI QUATUOR" ausgedacht hat. Ich habe aus zwei dieser einzigartig schönen Marginalien zitiert: Einmal für meine r1- Reflex-Sonnenuhr, bei der die gezeichnete rechte Hand und die Schnur in ein reales rotes Schnürl übergeht, an dem in 75 Zentimeter Tiefe ein Maurer-Senkblei hängt.

Hier, bei meiner r2- Reflex-Sonnenuhr habe ich eine historische Opiumwaage aus Birma an einen weißen Faden drangehängt, wodurch dem Spruch "SEMPER DIES FULGANT PACIS" eine weiteres Moment hinzugefügt wird, nicht wahr, die Balance zu halten in jeglicher Beziehung und zu jeglicher Zeit und das mit einer Waage, die einst zum Handel mit Opium geschaffen wurde.

Seit diese venezianische Maske des "Il Dottore della Peste" an der Wand hängt, gibt es, wenn der Wettergott gnädig ist, zweimal im Jahr ein sehr hübsches Schauspiel: Das Sonnenscheibchen verschwindet dann in einem der beiden Augenlöcher und leuchtet von innen aus dem andern heraus.

Im Cadran Info Nr. 19 der französischen Sonnenuhrengesellschaft CCS stand auf Seite 25 diese hübsche kleine Nachricht:

                      Beim Markieren eines Laserpunkts für die 12-Uhr-Linie

Die Malereien für beide Reflex-Sonnenuhren waren vor allem im Deckenbereich reichlich mühsam und ich balancierte meist mit zwei Leitern oder mich mit einem Fuß auf einem Möbelstück abstützend. Da war die Gestaltung des Spruchbandes mit der Lupenbrille auf der Nase und auf meinem Papierschrank und auf einer Leiter stehend geradezu eine Erholung!

Zum Schluß ein abgewandelter Mao-Spruch:

"Laßt tausend Reflex-Sonnenuhren erblühen!"

Einen Link zu der feinen Tridux 2000 von Dietrich Ahlers finden sie hier:

http://planetarium.hs-bremen.de/planetarium/astroinfo/sonnenuhren/ahlers/tridux.htm

Martha Alicia Villegas V. aus Mexiko hat über meine beiden Spiegelsonnenuhren im März 2004 einen schönen Artikel im spanischen Sonnenuhrenmagazin "Carpe Diem" veröffentlicht:

"Dos relojes de Sol en el interior del hogar/ Los relojes de reflexión de Reinhold Kriegler". Sie müssen hier nur auf den Titel klicken, dann erscheint der Artikel!

Die r2- Spiegelsonnenuhr wird in deutscher und italienischer Sprache als "Sonnenuhr des Monats" hier vorgestellt: 

  http://planetarium.hs-bremen.de/planetarium/astroinfo/sonnenuhren/kriegler/r2.htm  

[DGC-Nummer 11683]

Cadrans à réflexion
Février 2010

http://www.cadrans-solaires.fr/reinhold-kriegler.html  

Joël Robic hat meine beiden Reflex-Sonnenuhren ganz zauberhaft als Sonnenuhren des Monats Februar 2009 vorgestellt. Hier ist der Anfang mit meiner r2- Sonnenuhr:

 



Im Spätherbst und im Winter, wenn die Sonne sehr tief steht, wandert das Sonnenscheibchen durch die geöffnete Tür hinaus in den Flur und wandert dort zur extra angemalten 2-Uhr-Linie, um kurze Zeit später wieder ins Zimmer zurückzukehren und dort zunächst die Linien am Wäscheschrank zu besuchen und dann an der Wand weiterzugleiten und schließlich hinter einer großen Radierung die kurze 4-Uhr-Linie zu beglücken...




















Hier sieht man recht schön, wie das Sonnenscheibchen von der rückwärtigen Wand auf den Schrank springt und diesen erst mal umrundet, um dann an der seitlichen Wand weiterzugleiten.





Noch ist das Sonnenscheibchen auf dem Bergesrücken der Radierung zu sehen. Wenn es in der Nähe des Jesus-Knaben ist, nehme ich meist das Bild ab und hinter dem Bild kommt die 4-Uhr-Linie zum Vorschein. Danach ist schnell Schluß, weil die Sonne im Winter früh hinter den Nachbarhäusern untergeht!






Das Motto-Band in der ursprünglichen lateinischen Fassung. Das "fulgerent" hat meinem italienischen Sonnenuhrfreund und großen Lateiner vor dem Herrn, Alessandro Gunella aus Biella, nicht behagt und er hat mir sehr zu "fulgant" geraten, was ich dann auch so abgeändert habe. Die fulgerent-Fassung stammte übrigens von Giacomo Agnelli, einem kürzlich verstorbenen Sonnenuhrfreund aus Norditalien!